Klaus Meske

Klaus Meske

Lebensstationen sind meistens durch Veränderungen gekennzeichnet. Die Erinnerungen daran werden anlässlich bestimmter Ereignisse wachgerufen. Hier im Zusammenhang mit dem fünfzigjährigen Abiturjubilāum 2015 an der Peter-A.-Silbermann-Schule.

Nun ließe sich ein tabellarischer Lebenslauf aufschreiben, ein Leben ohne Blut. Es würde also nur die Frage, was ist aus diesem Menschen geworden, was hat er geleistet, beantwortet. Fragen nach prägenden persönlichen Anlagen, nach Ereignissen und schließlich nach dem Antrieb des Handelns, blieben unbeantwortet, sie machen aber das Leben aus.

Nun ist das Leben nichts was man schon nacheinander erzählen könnte, denn im Leben geschieht immer alles gleichzeitig. Es wird also ein Bericht über eine Entwicklung werden.

Am Ende des zweiten Weltkrieges war ich gerade neun Jahre alt, der Vater gefallen, Flucht, Vertreibung, Not. Die Mutter musste mich durchbringen: zuerst als Trümmerfrau, dann als Arbeiterin im EAW J.W. Stalin, der ehemaligen AEG am Bahnhof Treptow. Wir wohnten im Ostsektor. Die Schulzeit bis zum Ende der neunten Klasse wurde geprägt durch die Währungsreform, denn plötzlich waren die Läden im Westen über Nacht gefüllt. Der Klau von Buntmetallen mit einer Gang war deshalb unser Hauptanliegen. Die Einnahmen wurden sofort in Delikatessen umgesetzt.

Mit Beginn der Lehre 1951 Im EAW J.W. Stalin als Werkzeugmacher (Industriemechaniker heute), erlebte ich bewusst die Veränderung und den erwachenden Drang zielorientiert weiterzukommen. Es fanden sich neue und förderliche Freunde, die meine mir mitgegebenen Neigungen zur Kunst teilten. Mein Lebensgefühl strebte jetzt nach Weite. Die im Betrieb und der Berufsschule uns übergossene kommunistische Weltanschauung versickerte bei mir im Sande. Auf meinen Zeugnissen fand sich immer die Bemerkung: sein gesellschaftliches Verhalten gab keinen Anlass zur Klage.“ Als im März 1953 Stalin starb, konnte ich erleben, wie dieses Ereignis bei den einen einem Weltuntergang glich und bei den anderen ein Gefühl der Befreiung auslöste. Nicht lange danach kam es zum Aufstand des 17. Juni, und wenn es nach meinem Ausbilder gegangen wäre, hätte hier meine Lehre ein Ende gefunden. Diese einschneidende Erfahrung ließ mich nach der abgeschlossenen Lehre Richtung Westen streben. 1955 ging ich nach Frankfurt/Main, arbeitete dort in einer größeren Firma in meinem Beruf und betrieb sofort meine Ausreise in die USA. Über den Weltrat der Kirchen hatte ich im Frühjahr 1957 Arbeit, Verdienst und Unterkunft nebst Schiffspassage schriftlich in der Tasche. Zu vermerken ist, dass ich, da ich aus dem Osten kam etliche Verhöre durch das amerikanische Konsulat über mich ergehen lassen musste. Erschwerend kam hinzu, dass ich noch nicht volljährig war (damals 21 Jahre) und eigentlich von meiner Mutter eine Einwilligung für die Auswanderung benötigt hätte. So verstrich die Schiffspassage und mir wurde als letzte Ausreisemöglichkeit ein Flugticket zugestellt. Da erst wurde mir richtig bewusst, dass ich eingewilligt hatte, nach einem Jahr einen Militärdienst abzuleisten. Mein Leben wäre sicher ganz anders verlaufen, wenn ich mich nicht im letzten Augenblick für ein Verbleiben in Deutschland entschieden hätte. Ich kehrte nach Westberlin zurück, fand Arbeit in meinem Beruf und mietete zum Schein ein Zimmer in Westberlin, wohnte aber in Ostberlin bei meinen Eltern. Während ich mich auf meine Meisterprüfung im Abendunterricht vorbereitete, lernte ich meine spätere Frau kennen, die im ersten Semester Chemie studierte. Durch sie wurde ich mit anderen Bildungsgängen konfrontiert. Für jemandem aus dem Arbeiterstand war das Abitur etwas völlig im Nebel liegendes. Da gab es kaum erkennbare Umrisse! Aber die Liebe und die Neugier darauf, welche neue Welt sich mir erschließen würde, haben mich zum Berliner Abendgymnasium, Peter-A.-Silbermann-Schule geführt. Die Vorstellung, fünf Jahre im Abendunterricht nach der täglichen beruflichen Arbeit bei einer Wochenarbeitszeit von achtundvierzig Stunden, habe ich mir verboten und immer wieder aufs Neue verbieten müssen. Ich schaute immer nur auf die Bewältigung des nächsten Schritts, daraus erwuchsen Stärken für den weiteren Weg. Neben den Bildungsinhalten, mit denen Ich bekannt gemacht wurde, deren Wirkung mir erst später bewusst wurde, habe ich verinnerlicht, was es heißt, trotz aller widrigen Umstände an einem Ziel festzuhalten und durchzustehen. Das war eine einzigartige Schulung!

Es waren Ferien, die 9. Klasse lag bereits hinter mir, als am 13. August 1961 die Mauer gebaut wurde. Alle Verbindungen zum Elternhaus waren plötzlich gekappt. Ich fand eine Wohnung in der Einflugschneise Tempelhof, Flug 10 Meter über dem Dach, ebenerdig im Hinterhaus, einem früheren Kuhstall. Es stank, aber die Wohnung war sehr billig! Das blieb meine Unterkunft bis zum Abitur.

Es lag auf meinem Weg, dass ich mich nach dem Abitur an der TU Berlin einschrieb, um Berufsschullehrer zu werden. Der Umgang und die Sprache von Jugendlichen, die in einem Industriebetrieb lernten und arbeiteten, war mir aus meiner Arbeitswelt vertraut. So hatte Ich ein tragendes Bild von meinem angestrebten Lehrerberuf. Ich studierte Maschinenbau mit der Fachrichtung Fertigungstechnik als erstes Fach. Für das zweite Fach hatte ich “Grundzüge des privaten und öffentlichen Rechts” gewählt.

Der Einstieg an der Uni war höchst seltsam, denn im Erstsemester wurde ich mit meinen 29 Jahren mehr als ein Assistent als ein Mitstreiter wahrgenommen. Wollte ich im Schwarm bleiben, war ein verbindlicher Umgang Voraussetzung. Achtung und Wertschätzung waren mir aber sicher, als offen lag, dass ich das Abitur im Abendunterricht gemacht habe. Die im Beruf gesammelte praktische Erfahrung war schließlich nicht nur an der Hochschule, sondern besonders auch im späteren Lehrbetrieb gegenüber denen, die nur mit einem Praktikum in den Schuldienst kamen, von großem Gewicht und Vorteil.

Nach der Ersten Staatsprüfung, dem anschließenden Referendariat und der Zweiten Staatsprüfung wurde ich zum Studienrat ernannt. Anschließend unterrichtete ich in meinen studierten Fächern nur kurze Zeit, denn ich wurde verpflichtet, nach zusätzlichen Studien am Institut für Biomedizinische Technik an der TU, die Berufsgruppen Orthopädie- und Chirurgiemechaniker zu übernehmen. Für diese Gruppen war ich dann der einzige Lehrer in Westberlin. Da sich die erzwungene Neuausrichtung als eine Sackgasse im persönlichen Fortkommen erwies, war ein interner jahrelanger Kampf mit der Schulbehörde unausweichlich, um aus dieser Sackgasse herauszukommen. Das am Abendgymnasium verinnerlichte Festhalten an gesetzten Zielen führte zum Erfolg. Mit 43 Jahren unterrichtete ich wieder in meinen angestammten Fächern am Oberstufenzentrum Maschinen- und Fertigungstechnik. Sechs Jahre später wurde ich zum Oberstudienrat und ein Jahr darauf zum Studiendirektor ernannt und in die Leitung der Abteilung für Betriebs- und Produktionstechnik“ gestellt.

Mit 65 Jahren schied ich aus dem aktiven Schuldienst aus. Darüber hinaus war ich im Schulbuchverlag Westermann engagiert. Meine über dreißigjährige Tätigkeit als Prüfer für die Industrie- und Handelskammer, beendete ich nach dem sechsten Jahr meiner Pensionierung.

Mit dem Blick auf meinen beruflichen Werdegang möchte ich Sie, die Schüler des Berliner Abendgymnasiums, ermutigen, trotz mancher widriger Lebensumstände, an Ihrem Ziel festzuhalten, denn das Abitur öffnet Ihnen die Wege, von denen Sie heute schon träumen.

Klaus Meske